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Du Breitgesicht!

Erst neulich saß ich mit Bekannten zusammen und berichtete von meiner aktuellen Lektüre, der "Invasion der Barbaren" von Peter Heather. Es geht dabei um die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus. Ich bin selbst Europäer, auch deswegen interessierte mich das Thema.

Der Autor ist ein renommierter Geschichtswissenschaftler. Er stellt am Anfang des Buches klar, dass mit "Barbaren" ganz wertneutral die Einwohner des nicht-römisch-beherrschten Europas gemeint sind. "Barbarisch" im umgangssprachlichen Sinne seien dagegen auch manche Römer gewesen, wenn sie z.B. in gut besuchten Arenen die Löwen auf Menschen hetzten.

Die Definition des "Barbaren" gab ich auch in meiner Gesprächsrunde zum Besten,  gleich am Anfang, um Missverständnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen. Es half nur leider nichts. Meine Bekannten hakten sofort und gnadenlos ein. "Barbar" sei eine abfällige Fremdbezeichnung, deren wertneutrale Verwendung letztlich unmöglich sei. Sie öffneten Wikipedia und zitierten: 

Barbar (von altgriechisch βάρβαρος bárbaros, Plural βάρβαροι bárbaroi) war im antiken Griechenland die ursprüngliche Bezeichnung für alle diejenigen, die nicht (oder schlecht) Griechisch und damit unverständlich sprachen (wörtlich „Stammler“, „Stotterer“, eigentlich: „br-br-Sager“)

[...]

Später bezeichnete der Begriff „Barbaren“ Völkerschaften, die nach antiker Auffassung der Griechen und Römer auf einer niedereren Kulturstufe standen als sie selbst.

Somit sei hinreichend belegt, dass es sich beim "Barbaren" um eine abfällige und somit unangemessene Fremdbezeichnung handelt. Ich hielt dagegen, dass das Wort kaum zu ersetzen sei, wenn man über das erste nachchristliche Jahrtausend in Europa reden wolle.  Warum nicht einfach "Ausländer" oder "Nicht-Römer", wollten meine kritischen Bekannten wissen. "Ausländer" hielt ich für zu allgemein, "Nicht-Römer" für zu komplex, da durchaus nicht alle Einwohner der von Rom beherrschten Gebiete als "Römer" zu  bezeichnen waren. Wir glitten ab in eine detailfreudige Diskussion über das römische Bürgerrecht. Vom Werdegang Europas war im Weiteren keine Rede mehr. 

Fremdbezeichnungen stehen ja ganz allgemein nicht sehr hoch im Kurs. "Rothäute" sind natürlich schon lange out, aber auch "Indianer" kann man nicht mehr ohne Weiteres sagen. "Indigene Amerikaner" gilt heutzutage als besser. "Indigene Deutsche" sollte man dagegen nicht sagen. Diesem Begriff wird aus der linken Szene oft der "Kartoffeldeutsche" entgegengesetzt. Dieses offensichtlich abwertende Wort erscheint im Rahmen einer Selbstbezeichnung (mit der dennoch andere gemeint sind...) wohl akzeptabel.

Die ehemaligen "Zigeuner" werden nun meist als "Sinti und Roma" bezeichnet. Doch kann ein einzelner Mensch gleichzeitig "Sinti und Roma" sein? Hier müsste man differenzieren, was aber praktisch alle Menschen, die ich bislang mit dieser Frage konfrontiert habe, überfordert. Wer ist ein Sinti, wer ein Roma? Glaubt man Wikipedia, so sind die Sinti eine Teilgruppe der europäischen, ursprünglich romanessprechenden Gesamtminderheit der Roma. Das wäre dann ungefähr so, als würden wir von den "Bayern und Deutschen" sprechen, oder?

"Eskimo" ist ein weiterer Problemfall. Viele Menschen denken noch immer, "Eskimo" würde "Rohfleischesser" bedeuten. Vielleicht aßen die "Eskimos" früher tatsächlich Rohfleisch, vielleiht sogar ganz überwiegend, warum auch nicht? Die etymologische Deutung des Wortes gilt aber schon lange als widerlegt. Aktuell kommen als korrekte Übersetzungen des "Eskimos" laut Wikipedia eher „Schneeschuhflechter“ oder „Menschen, die eine andere Sprache sprechen“ in Frage. Letzteres erinnert allerdings schon wieder an die Barbaren und könnte daher ähnlich problematish sein....

Da die "Eskimos" jedenfalls die schon lange verworfene Bedeutung "Rohfleischesser" nicht gut fanden, lehnten sie diese Fremdbezeichnung ab. Die meisten sprachbewussten Menschen reden daher heutzutage von den "Inuit". Die Inuit sind allerdings nur die östliche Teilmenge der "Eskimos". Die westlichen "Eskimos", die Yupik, sind somit rein begrifflich komplett unter den Tisch gefallen.

Andere Wörte, wie z.B. das berühmte N-Wort, dürfen mittlerweile nicht einmal in historischen Zusammenhängen zitiert werden. Vielleicht ist auch deshalb der Wortlaut der wohl berühmtesten Rede des wohl berühmtesten schwarzen Bürgerrechtlers - "I have a dream" - nicht mehr in Wikipedia zu finden. Der Inhalt ist zwar in großen Teilen noch aktuell, aber das N-Wort wird von Martin Luther King vielfach als völlig selbstverständliche Selbstbezeichnung für die Afroamerikaner verwendet. Es ist schwer, das zu beweisen, ohne Herrn King zu zitieren, doch das ist ja nicht mehr erlaubt. Wer mir nicht glaubt, der findet die Rede jedenfalls an anderen, noch unzensierten Stellen des Internets, für die ich allerdings keinerlei Verantwortung übernehme. 

Mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der sich Martin Luther King als "N-Wort" bezeichnete, bezeichnete ich mich bislang als Europäer. Europäer? Moment mal... . Ist das nun eine Selbst- oder eine Fremdbezeichnung? Wer hat dieses Wort eigentlich in die Welt gesetzt? Ich jedenfalls nicht. Und hat es irgendeine Bedeutung?

In der griechische Mythologie ist Europa ist eine phönizische Prinzessin, welche von Zeus nach Kreta entführt wird. Doch die Phönizer siedelten an den Küsten der Levante, also in Westasien. Warum sollte ich mir aber den Namen einer westasiatischen Prinzessin zu eigen machen? Und woher hatte die eigentlich ihren Namen?? Wir schauen ein letztes Mal in Wikipedia.

Der Name „Europa“ geht auf das altgriechische Εὐρώπη (Eurṓpē) zurück. Er wurde als Kompositum aus εὐρύς, eurýs, „weit, breit“ und ὄψ, óps, „Sicht, Gesicht“ aufgefasst, woraus sich die Bedeutungen „die mit der weiten Sicht“ oder „die Breitgesichtige“ ergeben.

 

Aha! Ein Breitgesicht soll ich sein? Denn diese Übersetzung scheint mir deutlich plausibler als das fast schon philosophische, eher angeberische "die mit der weiten Sicht". Unterscheidet sich "Breitgesicht" eigentlich substanziell von "Schlitzauge" oder "Rothaut"? Ist es nicht eindeutig schlimmer als "Schneeschuhflechter"? Mein eigenes Gesicht finde ich gar nicht so breit, und ausgesucht habe ich mir diese unzutreffende und potentiell herabsetzende Fremdbezeichnung schon gar nicht!! 

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